Was ist konservativ?



Konservatismus hatte in Deutschland lange keinen guten Ruf. Selbst Politiker der Unionsparteien wollten nicht immer konservativ genannt werden; es hatte den Klang des Verstaubten, des Unbeweglichen und Autoritären, manchmal des Korrupten und Hartherzigen. An alldem konnte, von Fall zu Fall, auch etwas Wahres sein; es traf und trifft aber nicht den Kern des Konservatismus, der das Bewährte gegen einen zweifelhaften Fortschritt schützen will. Die Abwertung des Konservativen hatte vielmehr damit zu tun, dass der Fortschritt in der Nachkriegszeit für die allermeisten nur Segen gebracht hat: die Emanzipation der Frau, den Abbau autoritärer Strukturen, die Zunahme von Aufstiegsmöglichkeiten, Massenwohlstand und ganz allgemein die Demokratisierung der Gesellschaft. Wer diesen Fortschritt bekämpfte oder bremsen wollte, konnte nur ein schlechter Mensch sein, der tradierte Privilegien und Machtverhältnisse gegen eine hellere Zukunft verteidigte.

Konservatismus hat ein Doppelgesicht. Er kann – je nach Standpunkt, so scheint es – sowohl etwas schlechtes Bestehendes (Privilegien, Machtverhältnisse, tradierte Vorurteile) wie auch etwas gutes Bestehendes schützen (Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Errungenschaften). Er kann eine Diktatur ebenso wie eine Demokratie bewahren wollen, sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums auftreten. Das ist aber nur scheinbar eine Frage des Standpunktes. In Wahrheit ist es eine Frage, worin das Bestehende gerade besteht.

Es gibt auch linken Konservatismus. Linke werden konservativ, wenn sich linke Politik schon einmal durchgesetzt hat, dann aber in die Defensive geraten ist. Was es dagegen nicht geben kann, ist linker Konservatismus im prinzipiellen Sinne – das ist ein Widerspruch in sich, weil der Linke grundsätzlich verändern, der Konservative grundsätzlich bewahren will. Gleichwohl können Linke und Konservative einen gemeinsamen Gegner haben: Das ist zum Beispiel der neue Liberalismus, der weder verändern noch bewahren, sondern alles dem freien Spiel der konkurrierenden Kräfte auf dem Markt überlassen will.

Konservatismus ist eine skeptische Haltung. Er misstraut Fortschrittsglauben und Technik vor allem deshalb, weil er in ihnen menschliche Allmachtsfantasien argwöhnt. Es scheint ihm stets zweifelhaft, ob der Mensch alle Folgen und Nebenfolgen seines Handelns abschätzen kann – ob also eine zum Guten geplante Veränderung nicht am Ende das Schlechte befördern wird. Im Übrigen glaubt der Konservative auch nicht an die Güte der Menschennatur oder gar daran, dass Politik den Menschen bessern könne. Deswegen ist halbherzige, taktierende und nicht allzu moralisch motivierte Politik in konservativer Sicht gute Politik: weil sie verhindert, dass man unwillentlich alles noch schlimmer macht.

Der Konservative ist kein Reaktionär. Schon sein Realismus würde es ihm verbieten, verlorene Zustände wiederherstellen zu wollen. Dass der Konservative und der Reaktionär manchmal zusammengedacht werden, ist ein Missverständnis und wird plausibel nur in einer radikal linken Perspektive, die gewissermaßen schon aus der politischen Zukunft zurückblickt, von der aus alles konservative Festhalten an der Gegenwart rückschrittlich erscheinen muss. Der Reaktionär will aber nichts konservieren, er ist ein Idealist oder, besser noch: ein rückwärtsgewandter Utopist, der alles Schöne, Richtige in der Vergangenheit schon einmal verwirklicht und nur durch die Moderne verspielt und sinnlos geopfert sieht. Den Reaktionär, wenn er kein Putschist ist, kümmert es nicht, dass er, worum er trauert, nicht wiederbekommen wird – auch das ist eine Haltung, die dem Machtinstinkt des Konservativen widerstrebt. Das Reaktionäre ist letztlich eine kulturkritische Haltung, und nur darin, in ihren modernefeindlichen Pointen, führt ein Brückchen ins konservative Lager: die bedrohte Familie, der verlorene Glaube, die respektlose Jugend, der verblasste Glanz des Militärs.

Konservatismus ist bürgerlich. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Bürgerliche Schichten werden dem Konservatismus eher zuneigen als andere, insofern sie etwas zu verteidigen haben, Besitz, Einfluss, Bildung. Anderseits akkumuliert sich bei Bürgerlichen, jedenfalls wenn sie die Chance haben, über einige Generationen zu bestehen, auch schlechtes Gewissen gegenüber den ererbten Privilegien; das ist der Grund, warum sich unter Sozialdemokraten immer auch Bürgerliche gefunden haben und die grüne Partei eine fast ausschließlich bürgerliche Klientel hat. Manchmal ist es purer Geschäftsinstinkt, der den Bürgerlichen die Einsicht vermittelt, dass man nicht so weiterwursteln kann wie bisher – gerade wenn man seine Stellung sichern will. Manchmal vermittelt auch Bildung eine Einsicht in das Transitorische aller Zustände, die das reine Festhalten als illusorisch erkennen lässt. Alles in allem – Konservatismus lässt sich nicht eindeutig soziologisch zuordnen. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass er dort auftritt, wo es etwas zu verlieren und nicht durch Fortschritt zu gewinnen gibt.

nach Jens Jessen, Die Zeit
Zuletzt geändert: Samstag, 3. August 2013, 14:30